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«In Kaschmir lernte ich viel über die Relativität der Zeit»

Sandra Stewart-Brutschin, Kommunikation SWISSINT, sprach mit Hauptmann Carlo Bernasconi, Militärbeobachter in der United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) in Kaschmir.

23.08.2021 | Kommunikation SWISSINT, Sandra Stewart-Brutschin

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Zu den Aufgaben der Militärbeobachter zählen auch Gespräche mit der lokalen Bevölkerung. So unterhielt sich Hauptmann Carlo Bernasconi beispielsweise im Februar 2020 mit dem Dorfverwalter von Hattian Bala.

Sie leisteten in Kaschmir zugunsten der UNMOGIP einen friedensfördernden Einsatz als Militärbeobachter. Welche Aufgaben fielen in Ihren Verantwortungsbereich?

Kaschmir stellt seit über 70 Jahren ein umstrittenes Gebiet zwischen Indien und Pakistan dar. Zahlreiche Kriege haben dazu geführt, dass eine Grenzlinie, die sogenannte «Line of Control» (LoC) festgelegt wurde. Diese Grenzlinie ist ein Überbleibsel der ehemaligen Waffenstillstandslinie. Meine Hauptaufgabe bestand darin, bei jeder Meldung einer angeblichen Verletzung des Waffenstillstands und des Luftraums auf der von Pakistan verwalteten Seite Untersuchungen vorzunehmen. Die indische Armee lässt dies auf dem von ihr verwalteten Gebiet seit 1972 nicht mehr zu. Jede Untersuchung umfasst drei Phasen. Zuerst folgt die Analyse des angeblichen Vorfalls und Erfassung der zugehörigen Dokumente. Hierzu begibt man sich an den Ort des angeblichen Vorfalls und holt Zeugenaussagen ein. Als nächstes wird die Dynamik des Vorfalls untersucht und möglichst nach stichhaltigen Beweisen gesucht. Zum Abschluss werden allenfalls noch fehlende Unterlagen eingeholt und ein Untersuchungsbericht geschrieben, der an das Hauptquartier der UNO in New York geht. Zusätzlich war ich für die Überwachung der LoC mithilfe von Patrouillen und Beobachtungsposten zuständig.

Worin lagen die Herausforderungen?

Bei solchen Missionen stellen sich auf jeder Ebene Herausforderungen. Etwa im operativen Bereich mit seinem unvorhersehbaren und harten Umfeld – hier ist eine optimale mentale und physische Vorbereitung gefragt. Zudem ist auf der taktischen und administrativen Ebene der eine oder andere Kompromiss erforderlich, da die Teams häufig aus Vertretern zahlreicher verschiedener Nationen bestehen und alle Beteiligten ihre eigenen Trainings- und Erfahrungshintergründe mitbringen. Hinzu kommt, dass die Teams ihrerseits täglich mit Vertretern zweier in einem Konflikt befindlicher Armeen zusammenarbeiten müssen, die ihre eigenen Interessen vehement verteidigen. Aber auch den kulturellen Aspekt sollte man nicht vergessen – es gibt zahlreiche Unterschiede zu unseren Sitten und Gebräuchen. Daher muss man über eine ausgeprägte Fähigkeit verfügen, wirksam zu vermitteln und sich anzupassen. Mit einer geeigneten Vorbereitung und einer grundsätzlich offenen Einstellung werden auch diese Herausforderungen Teil einer grossen, positiven Erfahrung.

Was war Ihr erster Eindruck, als Sie im Missionsgebiet eintrafen?

Ich verspürte sofort eine grosse Harmonie. Pakistan ist ein sehr gastfreundliches Land und Islamabad gehört zu den grünsten Hauptstädten, die ich je gesehen habe.

Worin sehen Sie die grössten Unterschiede zur Schweiz?

Ich möchte diese Frage beantworten, indem ich einige spezifische Aspekte der Gesellschaft hervorhebe, mit der ich zu tun hatte. Pakistan ist wie eine junge und starke Familie, die sich aber innerlich noch vollständig finden muss. Die Kaschmiri in der von Pakistan verwalteten Region sind ein stolzes und zugleich sehr bescheidenes Volk, das sich streng an seine Traditionen hält. Ein Grossteil der Menschen, denen ich begegnet bin, lebt vorzugsweise in der Gegenwart und denkt nicht an die Zukunft. Ihre Neugier und Lebensfreude drücken sich bei jedem Treffen in grossen Feiern aus, wenn die erste Fremdheit einmal überwunden ist. Leider hatte ich keine Gelegenheit, den von Indien verwalteten Teil Kaschmirs und Indien selbst kennenzulernen.

Ist Ihnen ein Erlebnis besonders in Erinnerung geblieben?

Die langen morgendlichen Patrouillenfahrten in Richtung der LoC am Fuss des Himalayas mit seinen riesigen Tälern und der unendlich erscheinenden Morgendämmerung. Diese langsame Annäherung an unser Ziel in einer derart unberührten Landschaft liess uns jeweils kaum glauben, dass wir am Ende auf Konfliktparteien treffen würden.

Welche Erfahrungen nehmen Sie aus Ihrem Einsatz mit nach Hause?

Kaschmir lehrte mich über Frieden und Geduld und die Relativität der Zeit; die Fähigkeit, bei jedem neuen Problem die Perspektive wechseln zu können; Demut, sich in die Lage des Gesprächspartners zu versetzen und die Realität aus seinem Blickwinkel zu betrachten. Ausserdem haben meine Erfahrungen vor Ort mitten in einem bewaffneten Konflikt mir gezeigt, dass nichts vorhersehbar ist und dass man auch mit den besten Taktiken nichts für gegeben annehmen sollte.

Was haben Sie als Nächstes vor?

Ich leiste seit April 2021 einen weiteren Einsatz im Kosovo und zwar als Kommandant des Swiss National Support Element (NSE). Hierbei handelt es sich um eine Logistik- und Supportkompanie vor Ort.

Weitere spannende Berichte aus der Welt der Friedensförderung im Swiss Peace Supporter Magazin 2/21


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