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Veröffentlicht am 12. Juni 2025

5 - Die von oben, die von unten

Der Rosengarten erlaubt einen seltenen Blick auf das ehemalige Industriegebiet und steht sinnbildlich für den Kontrast zwischen Oberschicht und Arbeiterschaft.

Industriegebiet Fabrik Glatttal

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Der Rosengarten, ehemals Teil des Hauses «Zur Rose», wurde 1695 von Lorenz Wetter (1654-1734) errichtet, einem Kaufmann bescheidener Herkunft, der ausserhalb des Kantons ein beträchtliches Vermögen angehäuft hatte. Nach seiner Rückkehr nach Herisau im Jahr 1690 baute er ein weit verzweigtes Handelsnetz auf, das nicht nur den Leinwandmarkt dominierte, sondern auch Rohstoffe, Grundpfandtitel sowie Geld- und Wechselgeschäfte umfasste. Sein Unternehmen entwickelte sich rasch zu einem der florierendsten in Appenzell Ausserrhoden. Gestärkt durch diesen wirtschaftlichen Erfolg, stieg Wetter auch in die Politik ein, übernahm die Führung der demokratischen Opposition und prägte das politische Leben des Kantons nachhaltig. Der Rosengarten, der lange Zeit im Besitz einflussreicher Familien war, bevor er 2004 von der Stiftung Steinegg übernommen wurde, bietet einen einzigartigen Blick auf das ehemalige Industriegebiet, das vom Dorfzentrum aus kaum sichtbar ist. Diese Perspektive symbolisiert den markanten Kontrast zwischen der Welt der Elite, verkörpert durch den Garten, und der Arbeiterwelt, die sich darunter erstreckt.

Zwischen 1865 und 1920 prägen die Stickerei und ihre angrenzenden Tätigkeiten die Wirtschaft von Herisau, das sich zum wichtigsten Zentrum der Ausrüstindustrie in der Ostschweiz entwickelt. Die Arbeit in der Textilbranche, die auch Kinder miteinbezieht, ist hart und körperlich belastend. Diese schwierigen Arbeitsbedingungen hinterlassen deutliche Spuren: In Appenzell Ausserrhoden ist die Zahl der für den Militärdienst untauglich erklärten Männer ungewöhnlich hoch. Zu den häufig genannten Ursachen zählen eine geringe Körpergrösse, ein schmaler Brustumfang sowie Anzeichen von körperlicher Schwäche, Blutarmut und Entwicklungsverzögerungen, die auf die belastenden Arbeitsverhältnisse in den Webereien und Appreturbetrieben zurückgeführt werden. Inmitten dieser sozialen Missstände spielt der Pfarrer Howard Eugster (1861-1932), eine zentrale Figur des appenzellischen Sozialismus, eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Als Mitglied des Kantonsrates, des Nationalrates und des Regierungsrates setzt er sich unermüdlich für den Schutz der Arbeiterinnen, die Begrenzung der Kinderarbeit und die Förderung der beruflichen Bildung ein. Auf nationaler Ebene kämpft er insbesondere für die Revision des Fabrikgesetzes, um den Arbeitsschutz weiter zu stärken.

Herisau, als bedeutendster Industrieort Appenzells, ist die einzige Gemeinde im Kanton, die während des Landesstreiks im November 1918 einen massiven Streik erlebt. Die Mobilisierung legt die Fabriken, die Baustellen und einen Teil der Handwerksbetriebe lahm, während auch die Eisenbahnen und die Druckerei der Appenzeller Zeitung ihren Betrieb einstellen. In Abwesenheit von Howard Eugster, der dies im Nachhinein kritisiert, setzt die Kantonsregierung zwei Infanteriekompanien ein, um öffentliche Gebäude wie die Kantonalbank, die Post und den Bahnhof zu sichern. Die Bewegung, die ohne grössere Zwischenfälle verläuft, endet am 14. November nach der Ankündigung des Streikes auf nationaler Ebene. In diesem sozialen Spannungsfeld spielt Emile Sonderegger (1868-1934), Erbe einer wohlhabenden Textilfamilie aus Herisau und Offizier von Beruf, der später durch sein Engagement in der Frontenbewegung in unrühmlicher Erinnerung bleibt, eine zentrale Rolle. An der Spitze der 4. Division leitet er die Ordnungsoperationen in Zürich und Winterthur. Seine Kompromisslosigkeit bringt ihm den Applaus des Bürgertums ein, während die Linke ihn als Werkzeug der kapitalistischen Repression betrachtet.

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