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«I bin dr Martin und fertig»

Martin Candinas kommt aus Rabius, ein kleines Dorf in der Surselva. Seit Mitte Dezember ist der Bündner Mitte-Politiker neuer Nationalratspräsident und damit der höchste Schweizer. CUMINAIVEL hat mit ihm gesprochen.

11.01.2023 | CUMINAIVEL | ft

Es ist 08.30 Uhr in Chur. Ich warte vor einem Café beim Bahnhof. Mein Smartphone läutet. Martin Candinas schreibt: «Bin 5 - 10 Minuten verspätet». Ich schreibe zurück: «Kein Problem». Schliesslich kommt gleich der höchste Schweizer. Ein paar Minuten Verspätung liegen da wohl drin. 08.38 Uhr: Martin Candinas trifft ein.

Herzliche Gratulation Herr Candinas zu Ihrer Wahl als Nationalratspräsident.

Vielen Dank Herr Theus.

Nehmen Sie einen Kaffee?

Ja gerne. Ein Kaffee muss sein. Hier beginne ich auch nach meiner Wahl zum Nationalratspräsidenten nichts Neues (lacht).

Ihr Leben geht also ganz normal weiter, auch trotz Ihrem neuen Job als Präsident des Nationalrates?

Klar gibt es Veränderungen nach meiner Wahl zum Nationalratspräsidenten. Wie sich diese Veränderungen genau zeigen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht ganz klar. Ich denke, es wird vor allem ausserhalb der Parlamentssessionen einiges Neues auf mich zukommen. Damit meine ich etwa Reisen ins Ausland oder verschiedene Treffen mit Vertretenden von ausländischen Staaten, von der Wirtschaft und Politik.

Auf Ihre speziellen Tätigkeiten als Nationalratspräsident möchte ich später noch zu sprechen kommen. Sie sagten, dass die Veränderungen vor allem ausserhalb der Sessionen stattfinden werden. Weshalb?

Während der Sessionen bin ich als Präsident des Nationalrates quasi fremdgesteuert. Das heisst, es gibt ein klares Programm, das ich einzuhalten habe. Freiräume für andere Dinge sind wenige vorgesehen. Nach einer Session gibt es viele Aufgaben, die es nachzuarbeiten gilt. Die letzten Wochen waren somit sehr geprägt im Zusammenhang mit meinem Amt als Nationalratspräsident.

Geprägt wohl auch mit vielen Gratulationen und der Beantwortung unendlicher vieler Karten…

(lacht). Das war tatsächlich so der Fall. Meine Wahlfeier war quasi eine Tour de Suisse von Bern über Brig nach Disentis über meinen Heimatort Rabius bis nach Chur und zurück nach Bern. Dabei durfte ich viele Gratulationen entgegennehmen. Es ist schön zu spüren, dass die Leute, gerade auch hier in Graubünden, mich unterstützen und Freude daran haben, dass der Nationalratspräsident ein Bündner ist.

Und die Gratulationskarten?

Die haben mich in den letzten Wochen ebenfalls auf Trab gehalten. Es sind hunderte von Karten und E-Mails eingegangen. Das ist ein wunderschönes Gefühl. Ich danke allen, die mir gratuliert haben und bitte gleichzeitig um Verständnis, wenn die Antwort nicht gleich am nächsten Tag erfolgt ist.

Als neuer Nationalratspräsident standen Sie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit vor einer ziemlichen Herausforderung. Es galt gleich zwei vakante Bundesratssitze zu besetzen. Sie haben diese Wahlen so souverän geleitet, als hätten Sie nie etwas anderes gemacht. Wie nervös waren Sie wirklich?

Ich war sehr nervös und der Druck war gewaltig. Einerseits kommt die vereinigte Bundesversammlung zusammen, andererseits schaut fast die ganze Schweiz mit. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm. Dass man unter solchen Umständen ein wenig nervös ist, dürfte wohl normal sein. Tatsächlich war die Zeit zwischen meiner Wahl zum Nationalratspräsidenten und den kurz darauffolgenden Bundesratswahlen eine der intensivsten in meinem Leben. Das gebe ich zu.

Und heute erleichtert, dass alles ohne grössere Probleme und Pannen geklappt hat.

Sehr froh sogar. Gerade vor den Bundesratswahlen hatte ich grossen Respekt. Schliesslich habe ich dies zuvor in meinem Leben noch nie gemacht. Deshalb bin ich dankbar, dass alles so gut über die Bühne ging.

Wie haben Sie sich auf die Bundesratswahlen vorbereitet? Ich gehe nicht davon aus, dass Sie am Morgen in den Saal kamen und dann hiess es: Let´s Go:

(lacht). Oh, das wäre wohl nicht gut angekommen. Darum habe mich wirklich äusserst genau auf die Bundesratswahlen vorbereitet. Es gibt einen ganz genauen protokollarischen Ablauf, wie eine solche Wahl vonstatten gehen muss. Doch nur das Protokoll alleine genügt nicht. Das ganze soll ja auch geübt sein. Und das habe ich gemacht. Speziell kam bei mir hinzu, dass ich unbedingt auch in Rätoromanisch sprechen wollte. Vor mir hat dies noch nie jemand gemacht.

Also die Bundesratswahl auch in Rätoromanisch durchzuführen…

Genau. Die Dreisprachigkeit von Deutsch, Französisch und Rätoromanisch während der Bundesratswahl war eine ziemliche Challenge. Denn es gibt für diese Wahl weder vorgefertigte Texte in Rätoromanisch noch ist man in der synchronen Übersetzung damit vertraut. Aber wie heisst es so schön: Übung macht den Meister.

Sie haben stundenlang vor dem Spiegel geübt?

So ähnlich (lacht). Wir haben sogar am Morgen des Wahltags nochmals geübt. Um sieben Uhr in der Früh machten wir die letzten Übungen.

Üben lohnt sich also. Sie haben die Wahl souverän geleitet und konnten peinliche Pannen vermeiden.

Ja, und das war gar nicht so einfach. Ich verlangte vom Wahlbüro, dass die Wahlzettel entsprechend angepasst werden.

Wie sah das aus?

Mit einem dicken Schrägstrich. Zuerst stand der Text in Rätoromanisch, dann folgte der dicke Schrägstrich, dann kam der deutsche Text, dann wieder ein dicker Schrägstrich und schliesslich die französische Übersetzung.

Wow, voll durchorganisiert.

Klar, hätte ich ein Chaos gemacht, wäre ich jetzt die Lachnummer der Nation. Und darauf hatte ich wirklich keine Lust (lacht).

Zur Lachnummer wurden Sie nicht, im Gegenteil. Sie haben als Nationalratspräsident brilliert, auch dank eines disziplinierten Vorgehens.

Beigetragen zum Erfolg hat auch die Disziplin der vereinigten Bundesversammlung. Sonst ist der Lärmpegel im Saal ja deutlich höher. Da wurde mir bewusst: Okay, ich bin jetzt also die einzige Person, die im Saal spricht und der Rest hört zu. Das war schon ein sehr eindrücklicher Moment.

Sind Sie ein strenger Lehrer? Wollen Sie die Ruhe im Saal auch während der Sessionen beibehalten?

Ich sehe mich weniger als ein Lehrer, sondern vielmehr als ein Moderator. Denn ein Lehrer sollte seiner Klasse im besten Fall noch etwas beibringen. Das jedoch ist nicht die Aufgabe eines Nationalratspräsidenten. Mein Job ist es, die Tagesordnung so durchzubringen, damit die Geschäfte am Ende des Tages beraten sind.

Und wie wollen Sie das machen?

Die Redezeit ist einzuhalten. Bei bei Fragen gilt: Kurze Fragen, kurze Antworten. Daran werde ich die Nationalrätinnen und Nationalräte immer wieder aufmerksam machen. Und für mich ganz wichtig: Die Sache steht im Zentrum.

Und nicht die Person Martin Candinas?

Nein.

Es gibt also keinen Unterschied zwischen Martin Candinas vor seiner Wahl zum höchsten Schweizer und danach?

Sagen wir es so: I bin dr Martin und fertig.

Bescheiden.

Ja. Der einzige Unterschied ist die erhöhte Aufmerksamkeit. Egal wo ich bin - hier im Café, im Zug, auf der Strasse oder wo auch immer - die Leute sprechen mich an. Das mag während meines Jahres als Nationalratspräsident recht intensiv sein, aber auch das ist vergänglich. In einem Jahr werden die Leute schon bald wieder vergessen haben, dass ich Nationalratspräsident gewesen war.

Mit der Vergänglichkeit haben Sie keine Probleme?

Nein, alles ist vergänglich. Es wird auch ein Leben nach meinem Amt als Nationalratspräsident und nach meiner Tätigkeit als Politiker geben. Die Vergänglichkeit der Dinge versuche ich mir auch immer wieder in Erinnerung zu rufen. Deshalb ist die Konzentration auf das Wesentliche entscheidend.

Was ist das Wesentliche?

Dass wir uns Menschen stets als Menschen begegnen.

Sie wären ein guter Philosoph geworden.

Danke (lacht).

Soldat wurden Sie nie, oder?

Nein, ich bin ein Untauglicher. Wegen meiner Sehschwäche wurde ich als untauglich erklärt. Das war für mich im ersten Moment ein ziemlicher Schock. Denn ich hätte tatsächlich gerne Militärdienst geleistet.

Das hört man auch nicht alle Tage…

Dafür habe ich meinen Dienst am Vaterland als Angehöriger des Zivilschutzes geleistet, konkret als Nachrichtenpionier. Ich denke sehr gerne an diese Zeit zurück. Es entstanden Freundschaften, die bis heute halten. Und die spannendsten Gespräche gab es natürlich jeweils am Abend in der Beiz (lacht). Die Arbeit war aber auch streng. Oft arbeiteten wir im Wald oder in abgelegenen Talschaften in der Surselva und haben mit unserer Arbeit zum Schutz der Bevölkerung beigetragen. Seit ich aber Nationalrat bin, muss ich nicht mehr in den Zivilschutz. Das steht in irgendeiner Verordnung.

Als Nationalrat leisten Sie ja auch Ihren Dienst am Vaterland.

Stimmt. Und ich bin sogar Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates. Die Bedeutung der Armee ist mir somit sehr bewusst.

Inwiefern?

Die Coronapandemie hat deutlich gezeigt, wie wichtig das Militär ist. Es braucht bei ausserordentlichen Ereignissen - sei es eine Pandemie, eine Naturkatastrophe oder was auch immer - die Unterstützung der Armee. In solchen Situationen sind die zivilen Behörden am Anschlag. Ein weiteres Beispiel ist der anhaltende Konflikt in der Ukraine. Hier beschäftigen wir uns in der Kommission unter anderem mit der Flüchtlingsfrage. Also wie viele Menschen aus der Ukraine kommen in die Schweiz und müssen untergebracht werden. Dann geht es ganz grundsätzlich um die Sicherheitssituation in der Schweiz, um das Armeebudget, die Ausfuhr von Kriegsmaterial und und und.

Das war eine sehr sachliche Antwort. Wie ist Ihre persönliche Haltung gegenüber der Armee?

Die grossen Gefahren, denen sich die Schweiz stellen muss, sind Cyberangriffe und Attacken aus der Luft. In diesen Bereichen gilt es, entsprechende Investitionen zu tätigen. Denn hier liegt der Fokus. Beim Armeebudget war es mir wichtig, dass der finanzielle Beitrag nicht einfach beispielsweise um zwei Milliarden Franken erhöht wird, sondern diese Erhöhung gestaffelt erfolgt. Deshalb bin ich mit der jetzigen Lösung, eben der gestaffelten Erhöhung des Budgets, sehr zufrieden.

Und die Kriegsmaterialausfuhr?

Hier habe ich eine restriktive Haltung. Die Schweiz als neutrales Land muss sehr sensibel sein in ihrem Verhalten, denn an der Neutralität unseres Landes gilt es festzuhalten. Und als Gesetzgeber müssen wir zudem glaubwürdig bleiben. Ein eben erst in Kraft getretenes Gesetz kann nicht einfach über Bord geworfen werden. War das jetzt politisch zu pointiert?

Sie sagten doch: Kurze Fragen, kurze Antworten.

(lacht).

Nächste Frage: Wie bedeutend ist das Weltwirtschaftsforum für die Schweiz?

Sehr bedeutend. Am WEF kann die Schweiz zeigen, dass sie eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielt. Hier denke ich nicht nur an die Weltwirtschaft, sondern auch regional. Das WEF ist für die Region Davos und für ganz Graubünden eine wichtige Einnahmequelle sowie ein Aushängeschild. Deshalb ist es entscheidend, dass solche Anlässe wie das WEF hierzulande bleiben. Grund genug für mich als Nationalratspräsident, in Davos kurz vorbeizuschauen.

Und wo schauen Sie in Ihrem Jahr als Nationalratspräsident sonst noch vorbei?

Ich werde unter anderem nach Brasilien, Chile, Vietnam und Singapur reisen.

Oha, nicht gerade um die Ecke. Weshalb diese Länder?

In den letzten zwei Jahren wurden viele Länder in Europa besucht. Mit meinen Reisen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass für die Schweiz nicht nur europäische Staaten wichtig sind, sondern genauso Ländern in anderen Kontinenten.

Und was muss die Schweiz machen, damit das Weltwirtschaftsforum nicht plötzlich seine Koffer in Davos packt und in ein anderes Land zieht?

Diese Frage beschäftigt uns seit langer Zeit und es ist tatsächlich Jahr für Jahr eine neue Herausforderung, das WEF in Davos zu halten. Ich bin jedoch überzeugt: Wenn die Schweiz als Land und Graubünden als Kanton einen guten Job machen, dann bleibt das WEF in Davos. Doch auch hier appelliere ich an die Bescheidenheit. Es gab schon viele schlechte Schlagzeilen über Wuchermieten oder Trittbrettfahrer in Davos und Umgebung. Wir müssen da aufpassen.

Was wünscht der höchste Schweizer den Einsatzkräften am WEF?

Zunächst möchte ich allen Einsatzkräften herzlich danken. Ein solcher Anlass wie das WEF kann nur stattfinden, wenn die Sicherheit der Teilnehmenden gewährleistet ist. Das ist das oberste Prinzip. Weiter wünsche ich allen Einsatzkräften eine unfallfreie Arbeit, Durchhaltewille und schöne gemeinsame Momente in der Kameradschaft.

Danke Herr Nationalratspräsident für dieses Gespräch.


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