At the end of the day…
Am 1. Juli 2017 trat Br Daniel Lätsch in seinen wohlverdienten Ruhestand. Seit 2012 war er Kdt der Generalstabsschule (Gst S in Kriens), sein Nachfolger ist Brigadier Maurizio Dattrino, Kdt. Gebirgsbrigade 9 (bis Ende 2017). Abtretende Generäle seien gehalten, ihr Laufbahnende nach dem Motto 'Servir et disparaître' zu gestalten, so Br Lätsch. Mit einem Kommandowechsel sei aber immer viel Know how-Verlust verbunden. Nicht im Sinne einer Belehrung, sondern im Sinne von 'à prendre ou à laisser' möchte der Autor die nachstehenden Erfahrungen und Empfehlungen verstanden haben.
03.07.2017 | Daniel Lätsch

Die Schweizer Armee ist, durchaus berechtigt, stolz darauf, dass sich der militärische Analyse- und Entscheidungsprozess auch zum Lösen komplexer ziviler Probleme gut eignet. Der Know how-Transfer im Bereich der Führungsprozesse und der Führungserfahrung ist auch heute noch mehr als ein willkommener Nebeneffekt der militärischen Kaderausbildung. Gerade Senior Executives bestätigen immer wieder, dass – insbesondere in Krisensituationen – die militärisch geschulten Kadermitarbeiter gezielter, systematischer und mit mehr Durchhaltevermögen führen. Nur: Prozesse alleine genügen nicht. Entscheidend ist, dass die Armee im richtigen Moment das Richtige tut. Es reicht somit nicht, wenn ein Kommandant mit seinem Stab den Aktionsplanung- und den Lageverfolgungsprozess fehlerfrei gemäss dem Reglement Führungs- und Stabsorganisation anwendet. At the end of the day zählt nur die Wirkung!
Denken im Gesamtrahmen
Wirkung erzielen kann die Armee nur als Gesamtsystem. Wir haben Fortschritte gemacht, indem wir nicht nur die 1. Frage der Auftragsanalyse (Bedeutung der eigenen Aufgabe im Gesamtrahmen), sondern insbesondere auch die 4. Frage (Unterstützung, die bei der Erfüllung des Auftrages dienlich sein kann) gründlicher analysieren und handlungsrelevante Konsequenzen ableiten. Erst wenn wir Klarheit darüber haben, welche Wirkung die Nachbartruppen, die vorgesetzte Kommandostufe, die Luftwaffe, die EKF, aber auch die Spezialkräfte direkt oder indirekt erbringen, können wir uns einerseits auf unseren Auftrag konzentrieren und andererseits unsere Wirkung mit derjenigen der übrigen Verbände koordinieren. Moderne Konflikte sind aber nicht rein militärische Operationen. Staatliche Akteure wie die Nationale Alarmzentrale, die Polizei oder das Grenzwachtkorps leisten einen wesentlichen Beitrag zur Konfliktbewältigung. Eine enge Kooperation ist deshalb erfolgsrelevant. Deren Wirkungsmöglichkeiten, sowohl im Bereich des Nachrichtendienstes wie auch im Bereich der Operationen, sind ebenfalls in die Lagebeurteilung mit einzubeziehen.
Die hybride Bedrohung integral erkennen
Moderne Konflikte haben hybriden Charakter: Reguläre Streitkräfte, irreguläre Streitkräfte, Terroristen und das organisierte Verbrechen treffen in unterschiedlicher Stärke und Intensität im gleichen Raum auf einander. Die Konflikte brechen aber auch nicht völlig überraschend vom Zaun. Meist werden Mittel und Methoden des Wirtschafts- und des Informationskrieges schon vor dem eigentlich Ausbruch des bewaffneten Konfliktes eingesetzt. Parallel dazu werden Nachrichten beschafft, nicht zuletzt auch im Cyberraum. Erst wenn diese vorbereitenden Operationen den angestrebten Effekt zeigen, wird zur nächsten Eskalationsstufe geschritten, indem Sonderoperationskräfte und irreguläre Streitkräfte mit gezielten Anschlägen, Überfällen, Attentaten und Handstreichen Schlüsselpersonen ausschalten und Schlüsselinfrastrukturen lahmlegen.
Die Fragen stellen sich in einer solchen Lage, ob einerseits der angegriffene Staat über die notwendigen zivilen Mittel und die Resilienz verfügt, um der Bedrohung wirksam entgegentreten zu können und andererseits wann er die Kriegsschwelle als überschritten erachtet. Der Angreifer, sei er staatlich oder nicht-staatlich organisiert, wird so lange wie möglich danach trachten, unterhalb der Kriegsschwelle zu agieren und damit auch die umfassende materielle wie psychologische Mobilmachung des angegriffenen Staates zu vermeiden. Ganz im Sinne von Sun Zsu wird er durch kluges Handeln Bedingungen schaffen, welche geeignet sind, den Feind mit möglichst geringem Gewalteinsatz besiegen zu können. Mit Angriffen unterhalb der Kriegsschwelle soll demnach die Widerstandskraft des angegriffenen Staates herabgesetzt werden. Nur bei Bedarf wird der Sieg anschliessend gewaltsam errungen. Das bedeutet, dass in einer späteren Konfliktphase mit dem Einsatz der Luftwaffe, von Raketen oder von Cruise Missiles zu rechnen ist. Kann die Niederlage des angegriffenen Staats damit noch nicht erreicht werden, ist auch davon auszugehen, dass eine Bodenoffensive erfolgt. Allerdings: diese Bodenoffensive wird nicht nach dem Muster entfalteter mechanisierter Divisionen ablaufen, wie dies noch während des Kalten Krieges erwartet wurde. Die mechanisierten Angriffe werden viel mehr rasche Stösse entlang der Hauptverkehrsachsen in die strategischen Ziele, d.h. Wirtschaftsräume und allenfalls Zentren der politischen Führung sein.

Daraus sind primär drei Konsequenzen abzuleiten:
- Der Einsatz der Armee dürfte nahtlos von einem Unterstützungseinsatz zu Gunsten der zivilen Behörden in einen Kampfeinsatz übergehen. Es ist somit durchaus denkbar, dass in einzelnen Regionen Truppen, insbesondere unter der Führung der Territorialdivisionen, die zivilen Behörden unterstützen, während in einem Schwergewichtsabschnitt das Heer, als Einsatzverband Boden, den Verteidigungskampf führt.
- Der hybrid agierende Gegner wird unsere Truppen ab dem Einrücken massiv beeinträchtigen durch Attentate, Terroranschläge, elektronische Störeinsätze, Blockaden und Desinformationskampagnen. Eine ungestörte Mobilmachung, eine ungestörte einsatzbezogene Ausbildung (EBA) oder ein ungestörtes Verweilen im Bereitschaftsraum entsprechen deshalb einer unrealistischen Vorstellung eines modernen Konfliktes. Der Nachrichtenbeschaffung im Verbund und dem Eigenschutz der Truppe sind deshalb ab der Mobilmachung grösste Bedeutung zuzumessen.
- In der ersten Phase eines hybriden Konfliktes ist vor allem Schutz von Infrastruktur, von Räumen und von Hauptachsen gefragt. Der Übergang von einem Schutzdispositiv in eine Kampfaufstellung kann aber sehr kurzfristig notwendig werden. Truppen, die ab Konfliktbeginn schützen müssen, haben kaum mehr die Zeit, sich auf den Kampf vorzubereiten. Ihre Ausbildung muss deshalb schon heute darauf ausgerichtet sein, sowohl schützen, als auch kämpfen zu können.
Schmutzig denken
Jede militärische Handlung geht von der Bedrohung aus. Unsere eigenen Möglichkeiten und insbesondere unser Entschluss müssen eine direkte Antwort auf die gegnerischen Möglichkeiten geben. Nur wird der Gegner seine Absicht so lange wie möglich verschleiern und sogar versuchen, uns irrezuführen. Täuschung und Tarnung sind Disziplinen, in denen wir nicht glänzen. Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Vorbildlichkeit, Selbstdisziplin, Loyalität und Fürsorglichkeit sind wichtig und richtig. Aber nur gegenüber den eigenen Truppen. Wer siegen und zu diesem Zweck den Gegner vernichten will, muss ein gesundes Mass an schmutziger Phantasie, Brutalität und Rücksichtslosigkeit besitzen. Sonst wird er durch den Gegner und seine Aktionen permanent überrascht und folglich geschlagen.
Antizipieren
Wir sind recht gut in der Aktionsplanung und Befehlsgebung. Die Aktionsplanung berücksichtigt aber primär die erste Gefechtsphase. Ob wir verteidigen oder angreifen: Der Gegner wird immer versuchen, unsere Pläne zu durchkreuzen. Seinem permanenten Bemühen, die Initiative zu gewinnen, können wir nur durch Antizipation begegnen. Die Hauptrolle der G2-Zelle ist somit nicht, die Lage auf der Karte nachzuzeichnen. Vielmehr muss es den Nachrichtenspezialisten gelingen, die gegnerischen Optionen vorweg zu nehmen und damit dem Stab zu ermöglichen, die Eventualplanung laufend anzupassen und zu ergänzen, so dass der Kommandant in keiner Gefechtsphase durch den Gegner überrascht wird und laufend die Initiative behalten kann.
Schwergewicht bilden, Flexibilität und Handlungsfreiheit sicherstellen
Der Mannschaftsbestand der Schweizer Armee ist seit 1995 massiv geschrumpft. Gleichzeitig können die Truppenkörper aber dank Führungsinformatik, Mobilität und Feuerkraft eine bedeutend grössere Leistung erbringen. Trotzdem, ein flächendeckendes Dispositiv ist nicht mehr möglich. Es besteht deshalb die Tendenz, dass die knappen Mittel möglichst gut verteilt werden. Damit wird insbesondere gegen den Grundsatz der Schwergewichtsbildung verstossen. Oder wie es der preussische König Friedrich II. formulierte: "Wer alles defendieren will, defendieret nichts."
Der militärische Erfolg ist das Resultat der Konzentration überlegener Kräfte zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die entscheidende Frage ist somit nicht, ob sich eine Mechanisierte Brigade mit einem oder zwei Bataillonen in Front dem Gegner annähert, sondern wie sie bei Kampfaufnahme sicherstellt, dass sie – unter Berücksichtigung der Unterstützung durch die vorgesetzten Kommandostellen und die Nachbartruppen – einen Teil der gegnerischen Verbände isoliert und mit überlegenen Kräften vernichtet.
Wer seine Kräfte konzentriert, nimmt Lücken und Risiken in Kauf. Daraus folgt, dass Schwergewichtsbildung untrennbar mit der Wahrung der Handlungsfreiheit und der Flexibilität verbunden ist. Flexibilität beginnt im Kopf und bedeutet die Fähigkeit, seinen Plan geänderten Bedingen anzupassen und von einer sich bietenden Gelegenheit Gebrauch zu machen. Handlungsfreiheit kann durch vorausschauende Planung, Nachrichtenbeschaffung, Sicherung, das Ausscheiden von Reserven, die Vergrösserung der Versorgungsautonomie oder durch Geheimhaltung, Tarnung und Täuschung sichergestellt werden.
Schwergewichtsbildung sowie das Sicherstellen von Flexibilität und Handlungsfreiheit beginnen mit der Aktionsplanung. Entscheidend ist aber, dass durch Nachrichtenbeschaffung und Antizipation permanent die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Flexibilität und die Handlungsfreiheit gewahrt bleiben und damit der Kommandant die Initiative behält.
Die Schwachstelle des Gegners angreifen
Die Taktische Führung XXI sagte es deutlich, die FSO 17 macht es etwas diskreter: eines der wichtigsten Entscheidkriterien für taktische Entschlüsse ist die Konzentration auf die gegnerischen Schwachpunkte. Gepaart mit einem oft eher statischen Ansatz der Verteidigung messen wir uns – mit potenziell verhängnisvollen Folgen – oft mit der Speerspitze des Gegners. Wir definieren und nutzen Schwächen des Gegners nicht systematisch, beispielsweise indem wir die gegnerische Führungs-, Genie- oder Logistikunterstützung gezielt angreifen und ausschalten. Der Gedanke des Angreifens gegnerischer Schwachstellen muss sich bewusst und systematisch als roter Faden von der Analyse der Umwelt über die Analyse der gegnerischen Mittel und die Entwicklung gegnerischer Möglichkeiten zu den eigenen Möglichkeiten durchziehen. Erst dann werden wir unsere knappen Mittel gleichzeitig konzentriert, ökonomisch und wirkungsorientiert zum Einsatz bringen.
Einfachheit bewahren
Wir sind eine Friedensarmee. Das ist gut so. Aber, John Keegan hat es ziemlich brutal ausgedrückt: "Peacetime armies, we forget, fossilize. Bureaucrats get to the top." Das ist Ansporn genug, täglich das Gegenteil zu beweisen. Die meisten von uns waren nie in einem Gefecht. Die persönliche Erfahrung bringt uns somit nur beschränkt weiter. Der Versteinerung müssen wir deshalb durch Lektüre, durch Selbstkritik, durch offene Gesprächs- und Streitkultur sowie durch Mut zum Versuch und zum Misserfolg entgegen halten. Wir müssen aber auch vom irrigen Glauben abkommen, wir könnten alles schriftlich regeln. Detaillierte Vorschriften, Reglemente und Behelfe können in der Grundausbildung durchaus eine Hilfe sein. Sie hindern uns aber am freien Denken und halten uns deshalb militärisch unmündig. Das Ziel der militärischen Ausbildung darf nicht sein, die Prozesse und Formate zu beherrschen, sondern – stufengerecht – das operative Denken, die Taktik bzw. die Gefechtstechnik zu verstehen. Wenn die Prozesse und Formate nicht ohne Reglement bzw. Behelf verständlich sind, dann sind sie zu kompliziert. Die Komplexität von kriegerischen Ereignissen ist enorm. Es herrscht das Chaos. Umso mehr müssen wir uns bemühen, Klarheit in den Gedanken zu schaffen und diese Gedanken einfach und verständlich zum Ausdruck zu bringen. Und zwar schon in der Ausbildung, denn im Einsatz hat nur das Einfache Bestand.
Fazit: At the end of the day zählen weder die Prozesse noch die Formate. Es zählt nur die Wirkung!