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Armeechef über den Corona-Einsatz: «Es war ein prägendes Gefühl, die Armee dort einsetzen zu können, wo es sie braucht.»

Kaum war er im Amt, musste er den grössten Ernsteinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg auslösen. Bald schickt Thomas Süssli aber bereits wieder erste Soldaten nach Hause. Im Interview spricht der neue Armeechef über Corona, flache Hierarchien und den Kulturwandel, den er durchsetzen will.

17.04.2020 | Neue Zürcher Zeitung, Georg Häsler Sansano, Larissa Rhyn

Korpskommandant Thomas Süssli

Sie haben in der Corona-Krise den Auftrag gefasst, notfalls bis zu 8000 Soldatinnen und Soldaten aufzubieten. Da waren Sie noch keine 100 Tage im Amt. Wie erlebten Sie diese Zeit als oberster Soldat der Schweiz?

Anfang März prägten uns die Bilder aus Italien. Für uns war klar, dass wir bereit sein müssen, sobald die Kantone Leistungen der Armee anfordern. Wir haben früh mit der Planung und Vorbereitung begonnen. Als wir schliesslich die Mobilmachung auslösten, kam für mich die Sorge um die Gesundheit der Truppe dazu. Ich war viel vor Ort, um mit eigenen Augen zu sehen, wie gearbeitet wird und wie die Schutzmassnahmen eingehalten werden. Was ich gesehen habe, hat mich beeindruckt: Chefs, die sich um ihre Truppe kümmern, die Sorgen der Leute ernst nehmen und sie seriös auf den anspruchsvollen Einsatz vorbereiten.

Wie verlief die Mobilmachung? Das neue System wurde erst vor zwei Jahren wieder eingeführt…

Ja, die Mobilmachung hat sehr gut funktioniert. Die Armee konnte zeigen, dass die geplante Erhöhung der Bereitschaft richtig und wichtig ist. Unsere Milizarmee hat bewiesen, dass sie innert Stunden eine Mobilmachung durchführen und unsere Bevölkerung schützen und unterstützen kann. Auch das Aufgebot per SMS hat sich bewährt. Über 80 Prozent der Aufgebotenen haben innert einer Stunde geantwortet. Auch im Ausland wurde der Prozess mit Interesse verfolgt. Der Umstand, dass mit unserem Milizsystem in Rekordzeit aus Bürgerinnen und Bürgern Soldaten werden, ist sicher eine Besonderheit der Schweiz.

Was ziehen Sie bis jetzt für eine Bilanz dieses Ernstfalls?

Für eine umfassende Bilanz ist es noch zu früh. Wir stehen noch mitten im Einsatz.

Gut, dann fragen wir anders: Womit haben Sie zu kämpfen?

Zu Beginn war vor allem die Durchsetzung der Hygienevorschriften eine grosse Herausforderung. Aber unser Führungsrhythmus hat sich einmal mehr bewährt: Wir erfassen das Problem, beurteilen die Lage, fassen einen Entscheid und planen. Danach erteilen wir die Aufträge und passen später die Pläne wenn nötig an. Und ich denke, unsere Milizkader werden von der Führungserfahrung aus dieser anspruchsvollen Zeit noch lange profitieren.

Trotzdem haben Sie Mühe, genügend Leute zu finden, die in Kaderpositionen wollen. Was machen Sie falsch?

Das stimmt zum Glück so nicht. Wir finden auf allen Stufen genügend geeignete Anwärterinnen und Anwärter. Diese wollen als Milizkader Leadership lernen und leben. Sie wissen, dass unsere Ausbildung kombiniert mit dem «Abverdienen» nach wie vor die beste praktische Führungsschule der Schweiz ist. Wo sonst können sie in diesem jungen Alter so viel praktische Führungsverantwortung übernehmen und aus Erfahrung lernen?

Wo sehen Sie sonstige Herausforderungen?

Man muss ja nicht immer nur die Herausforderungen und Probleme anschauen. Die zurzeit wahrgenommene Wertschätzung durch die Bevölkerung tut unseren Bürgerinnen und Bürgern in Uniform gut – und sie haben es verdient.

Trotzdem ist nicht alles reibungslos gelaufen. Der Gewerbeverband kritisierte die Kommunikation an die Arbeitgeber.

Ich habe Verständnis für die Kritik. Der Brief an die Arbeitgeber kam erst nach einer Woche, was primär der hohen Geschwindigkeit der Entscheidungen in den ersten Tagen nach der Mobilmachung geschuldet war. Viele Angehörige der Armee fehlen noch immer in der Arbeitswelt, teilweise in der Grundversorgung. Nach dem neusten Entscheid des Bundesrates können wir nun einige hundert Armeeangehörige wieder ins Arbeitsleben zurückschicken - und so die Folgen des Assistenzdiensts für die Wirtschaft gezielt mindern.

Weshalb so schnell?

Inzwischen haben die Massnahmen des Bundes und der Kantone offenbar Wirkung gezeigt. Der Bedarf an Unterstützungsleistungen für das schweizerische Gesundheitswesen ist tiefer als damals befürchtet. Nun geht es uns darum, aktuell nicht direkt benötigte Truppen – mit Bereitschaftsauflagen – zu entlassen. Die Armee bleibt damit bereit, auch bei einer Lageverschlechterung die betroffenen Behörden von Bund und Kantonen zeitgerecht mit Leistungen zu unterstützen.

Offenbar haben viele Soldaten keinen Auftrag. Hat man mit «all in» zu viel aufgeboten?

Nein. Wir stützten uns auf den raschen Anstieg an der zivilen Unterstützungsgesuche der Kantone und den damaligen Stand der möglichen Pandemie-Szenarien. Für uns ging es darum, in der Pflege sofort ein Maximum an Unterstützung bieten zu können, falls sich die Befürchtungen bewahrheitet hätten und die Spitäler überlastet gewesen wären. Darauf haben wir uns eingestellt. Zum Glück bewältigt das zivile Gesundheitswesen die Lage nun weitgehend selbständig. Darum können wir nun erste Soldaten entlassen. Doch falls sich die Lage wieder verschärft, bieten wir sie erneut auf.

«Stressen und warten». Diese Erinnerung prägt bei vielen die Erinnerung an die Armee. Auch beim Corona-Einsatz müssen verschiedene Soldatinnen und Soldaten einfach warten.

Es liegt in der Natur des militärischen Handwerks, dass man sich gezielt vorbereitet, um dann meist nur einen kurzen, aber entscheidenden Einsatz zu leisten. Das geht ja auch der Feuerwehr so. Sie übt das ganze Jahr, ist bereit und auf Pikett, und wenn es einmal brennt, muss sie sofort bereit sein.

Wie sollen die Kommandanten mit der Wartezeit umgehen?

Die Kommandanten leben Leadership vor und erläutern den Sinn des Assistenzdienstes. Dabei erklären sie auch, warum es eine Reserve braucht. Die Soldatinnen und Soldaten sind äusserst motiviert, einen Beitrag zu leisten. Aber sie verstehen die Begründung mehrheitlich gut. Die Wartezeit ist somit nicht umsonst, sondern wird für die Ausbildung genutzt.

Weshalb lassen Sie die Rekrutenschulen einfach weiterlaufen? Viele Rekruten sind schon seit Wochen pausenlos in der Kaserne. Es gab sogar eine Petition, die fordert, dass sie nach Hause dürfen.

Es wurde in den letzten Wochen oft kritisiert, dass in den letzten Jahren Notlager und Reserven abgebaut wurden. Die Armee ist die letzte Sicherheitsreserve der Schweiz. Und wer weiss, was die nächste Krise ist? Wir müssen deshalb, nebst der Bewältigung der gegenwärtigen Situation, auch weiterhin bereit für andere Szenarien sein. Ich habe mit vielen Rekruten vor Ort gesprochen und glaube, dass sie dies mehrheitlich akzeptieren. Sie vermissen jedoch die Angehörigen und freuen sich, nach fünf Wochen wieder einen kurzen Urlaub antreten zu können.

Was ist Ihre Rolle als Armeechef im Corona-Einsatz?

Ich bin die Schnittstelle zwischen der Departementsvorsteherin Viola Amherd und dem Gesamtbundesrat auf der einen und dem Kommandanten der Operation auf der anderen Seite. Ich verantworte somit die Einsätze, führe sie aber nicht selbst. Es war das erste Mal, dass wir die neuen Armeestrukturen in einem längeren Einsatz in der ganzen Schweiz überprüfen konnten.

 Als ehemaliger Sanitätssoldat konnten Sie sogar Ihre eigenen Truppen in Marsch setzen…

Meine eigenen Erfahrungen in der Armee, vom Soldat der Sanitätstruppen bis hin zum Kommandanten der Logistikbrigade, gaben mir Vertrauen. Ich wusste: Die können das. Die Spitalbataillone haben seit mehreren Jahren genau das trainiert, was sie jetzt unter Beweis stellen. Aber nicht nur Sanitäts- und Spitalsoldaten sind gefordert. So hat beispielsweise die Infanterie Schutzaufgaben übernommen, und die Rekrutenschulen haben Infrastruktur für die einrückenden Truppen bereitgestellt.

Wie ist es bei Ihnen? Hatten Sie Anfangsschwierigkeiten?

Mir persönlich fiel meine Rolle nicht immer leicht. Ich musste mich teilweise bewusst in den Hintergrund nehmen. Dadurch hatte ich genug Zeit, um Kontakt mit der Truppe vor Ort zu haben. Es liegt mir viel daran, die Weiterentwicklung der Armee bis Ende 2022 konsequent umzusetzen, anschliessend die Stärken und Schwächen zu beurteilen und allenfalls gezielt Anpassungen vorzunehmen.

Wo braucht es denn aus Ihrer Sicht Anpassungen?

Wir stellen fest, dass wir in sehr vielen Bereichen Entscheidungswege und Prozesse verkürzen und optimieren können. Nicht nur innerhalb der Militärverwaltung und der Armee, sondern auch im Austausch mit den zivilen Partnern. Daran werden wir arbeiten. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Balance zwischen dem, was wir leisten sollen, und den Ressourcen. In den Wiederholungskursen haben wir immer weniger Leute, und es nicht sicher, dass wir langfristig die Bestände sichern können.

Wenn Sie mehr Frauen für den Dienst motivieren könnten, wäre das Bestandesproblem gelöst. Bundesrätin Viola Amherd erklärt schon seit ihrem Amtsantritt, dass sie den Frauenanteil in der Armee erhöhen will. Bis jetzt scheinen die Bemühungen aber wenig erfolgreich zu sein. Woran liegt das?

Ich glaube, Frauen bringen unserer Armee viel mehr, als nur die Bestände zu erhöhen. Sie bringen wertvolle andere Denkmuster ein, sind hoch motiviert und leisten gleich viel wie ihre männlichen Kameraden. Frauen kommen dann zu uns, wenn es uns gelingt, zu erklären, dass die Armee für sie spannende Herausforderungen und sinnvolle Aufgaben bereithält, an denen sie persönlich wachsen können. Das hat sich klar gezeigt. Einen Frauenanteil von 10 Prozent finde ich deshalb nicht unrealistisch. Wir wollen für jede Schweizerin und jeden Schweizer, die oder der zur Armee kommen will, den richtigen Platz finden.

Kommen wir zurück zur Bewältigung der Corona-Krise: Es heisst, Sie seien mit allen Ihren Kommandanten in täglichem Austausch. Machen Sie das bewusst anders als Ihr Vorgänger?

Eine Stärke unserer Milizarmee ist die Auftragstaktik. Damit alle Kommandanten vorausdenken und selbständig handeln können, müssen sie zeitnah die Pläne des Chefs kennen. Deshalb informieren wir sie jeden Tag in einer kurzen Telefonkonferenz über die Lageentwicklung und die Veränderungen im Einsatz. Die Kommandanten können neu auch in einem speziellen und sicheren Chat kommunizieren – untereinander und direkt mit mir. Wir haben so bewusst einen Schritt hin zu mehr Digitalisierung gemacht, und ich hoffe, dass wir damit einen Kulturwandel einleiten können.

Das klingt nach flachen Hierarchien.

Durchaus. Es ist mein Ziel, in der Armee flache Hierarchien zu schaffen. Aber ich möchte den Kulturwandel nicht primär daran festmachen. Die Digitalisierung der Armee und der Miliz nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Sie zwingt uns dazu, Fähigkeiten und Abläufe neu zu denken. Um neue Technologien einzuführen und sie effizient zu nutzen, brauchen wir einen Kulturwandel. Es muss möglich sein, in kleinen Schritten Neues zu versuchen, Fehler zu machen und daraus zu lernen, um sich rasch weiterzuentwickeln.

Da wir schon von Veränderungen sprechen: Wie können Armee und Bevölkerungsschutz künftig besser zusammenarbeiten?

Ich finde, die Zusammenarbeit funktioniert schon heute gut. Die Sicherheitsverbundsübung im letzten Herbst hat dazu beigetragen, dass die Verantwortlichen sich kennen und die Prozesse besser verstehen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es Möglichkeiten gibt, komplementäre Fähigkeiten und Kapazitäten besser zu nutzen.

Die Armee muss helfen, schützen und kämpfen. Der Aspekt Sicherheit hatte im Corona-Einsatz stets zweite Priorität. Trotzdem schicken Sie diejenigen Soldaten, die Polizei und Zollbehörden unterstützen, noch nicht nach Hause. Weshalb?

Der Aspekt der Sicherheit spielt bei jedem Armeeeinsatz eine Rolle. So hat die Truppe von Anfang an die eigenen Einrichtungen und Standorte geschützt. Aber wenn die Armee Assistenzdienst leistet, ist das immer subsidiär. Das heisst, sie kommt erst dann zum Einsatz, wenn die zivilen Mittel ausgeschöpft sind. Die Gesuche für die Unterstützung der Eidgenössischen Zollverwaltung und der Polizei kamen erst später. Und der Bedarf ist unverändert da. Die Truppen, die noch im Einsatz sind, müssen die Leistungen daher weiterhin erbringen.

Man könnte sagen: Bis jetzt war Corona eine gute Chance, «Süsslis Soft Power» zu demonstrieren. Dafür sind Sie bekannt. Aber eigentlich ist der Kernauftrag der Armee die Verteidigung…

Genau darin sehe ich meine Hauptaufgabe: Die Armee auf gegenwärtige und mögliche künftige Bedrohungen und Gefahren auszurichten. In letzter Konsequenz heisst das auch: die Schweiz in einem bewaffneten Konflikt verteidigen. Die neuen Bedrohungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Gegner vernetzt agiert. Er wirkt so lange wie möglich unerkannt und auf Distanz. Sein Handeln richtet sich primär gegen die Bevölkerung und unsere kritische Infrastruktur. Sollte es in der Schweiz zu einem bewaffneten Konflikt kommen, wird dieser zwangsläufig im überbauten Gelände stattfinden. Nicht weil wir es wollen, sondern weil der Grossteil der Fläche im Mittelland überbaut ist.

Worin liegen in diesem Szenario die grössten Gefahren?

Die Gefahren sehe ich vor allem in der zunehmenden Abhängigkeit unserer Gesellschaft vom Strom sowie in der Digitalisierung. Gleichzeitig nimmt unsere Resilienz ab, das hat sich in der gegenwärtigen Krise gezeigt.

Ist die Schweiz für Cyberangriffe genügend gerüstet?

Ich kann nicht für die ganze Schweiz sprechen. Ich nehme jedoch wahr, dass vor allem grössere Firmen immer besser geschützt und vorbereitet sind. Viele KMU hingegen haben die Mittel dafür nicht. Auch die kritischen Infrastrukturen bereiten mir Sorgen. Nicht, weil sie sich nicht genügend schützen würden. Sondern weil in unserer optimierten und effizienten Welt wenig Reserven und Resilienz bestehen. Bezogen auf die Armee hören wir oft, dass Cyber die neue Bedrohung sei und deshalb keine schweren Mittel mehr notwendig seien. Aber Cyber ersetzt nicht die bestehenden Bedrohungen – sondern macht sie im Gegenteil noch gefährlicher.

Welches Erlebnis hat Sie in den ersten 100 Tagen als Armeechef am meisten geprägt?

Mir gehen verschiedene Bilder durch den Kopf. Es sind vor allem die Menschen, die ich getroffen habe. Ich empfinde es als ein absolutes Privileg, mich mit vielen interessanten Persönlichkeiten austauschen zu können. Auch den Moment, als die Mobilmachung ausgelöst wurde, werde ich sicher nie vergessen. Jeder im Raum spürte, wie bedeutend das war. Es war ein prägendes Gefühl, die Armee dort einsetzen zu können, wo es sie braucht.


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