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Die Gegner

Sie nerven, sie stören, sie sorgen für Chaos. Sie sind die Gegner, die Bösen. Nach langen Verhandlungen mit der Gegenseite konnten wir einen Termin mit ihnen vereinbaren. Das exklusive Interview mit der roten Seite von «ODESCALCHI».

15.06.2022 | FT

 

Es ist ein normaler Morgen im sommerlichen Tessin: Um 09.00 Uhr zeigt das Thermometer bereits über 20 Grad an. Wir sitzen im Auto, sind unterwegs an einen nicht ganz ungefährlichen Termin. Wir sind angespannt, bald treffen wir auf die Bösen. Unsere Fahrt führt in den Norden des Kantons. Wir verlassen die Autobahn, in einem Dorf biegen wir links ab, dann die Strasse runter, angekommen. «Was suchen Sie hier?», fragt uns ein junger Mann in Militäruniform. Seine Stimme wirkt kräftig und bestimmt. «Wir sind hier für ein Interview», antworten wir. «Gerade aus, die Türe rein und über die Treppe hoch», so der junge Mann kurz und bündig. Was er sagt, machen wir.

«Sind Sie von der Kommunikation?», ruft uns jemand hinterher. Wir bekennen uns. «Mein Name ist Oberleutnant Wyss von der OPFOR». Die Begrüssung ist recht angenehm, schnell legt sich unsere Nervosität. Die Stimmung ist angenehm freundlich, zum Glück. Schliesslich sind wir hier bei den Bösen. OPFOR übrigens bedeutet opposite force, also quasi die Oppositions-Einheit an der Übung «ODESCALCHI». 

«Seid ihr wirklich so böse?», frage ich. «Nein, wir erfüllen unseren Auftrag und testen die Truppen auf Herz und Nieren. Das ist ja durchaus sinnvoll», so Oblt Wyss. Und schon sind wir mitten im Gespräch.

 

Oblt Wyss, erzählen Sie, was ist eure Aufgabe?

Wir gehören, wie alle anderen Truppen auch, zur Übung «ODESCALCHI.» Speziell bei uns ist, dass wir die Gegenseite stellen. So haben wir etwa einen Bootsunfall mit zivilen Personen simuliert. Dabei spielten wir Touristen auf einem Boot, die gerettet werden mussten. In einer anderen Übung waren wir als Einbrecher unterwegs und versuchten ein Aggregat aus einem militärischen Hauptquartier zu stehlen. Diese beiden Beispiele zeigen: Wir sind die Seite Rot innerhalb von «ODESCALCHI» und beüben alle angebotenen Bataillone.

 

Also seid ihr die Störenfriede?

Ja, aber hilfreiche Störenfriede. Es geht immer darum, Schwachstellen und Fehler aufzudecken, um daraus zu lernen und besser zu werden. Wir wollen niemandem etwas Böses tun, im Gegenteil.

 

Aber ihr seid schon die Bösen, oder?

Wir sind ganz klar die Bösen (lacht). Wir sind die Gegner.

 

Gegner in ganz unterschiedlichen Rollen…

Richtig, wir sind Klimaaktivisten, Einbrecher, Militärgegner usw. Wir spielen Gegner, die es auch in echt gibt.

 

Seid ihr frei in eurer Rolle als Gegner oder gibt es Vorgaben?

Der Divisionsstab gibt uns klare Vorgaben, an welcher Übung wir wann und wie teilnehmen müssen. Wir planen also nicht selbst unsere Einsätze. Aber es ist tatsächlich so, dass die beübte Truppe keine Ahnung hat, ob wir vor Ort sein werden oder nicht.

 

Den Gegner spielen zu dürfen, tönt sehr spannend. Wo liegen die grössten Herausforderungen?

Die grösste Herausforderungen für die Soldaten ist, dass sie dir richtige Eskalationsstufe finden. Also wie weit kann ich in meiner Rolle als Gegner gehen. Dafür werden die Soldaten von uns ganz genau über die anstehende Übung aufgeklärt. 

 

Wie genau?

Wir denken jede Übung durch und fragen uns, wie die Truppe auf unsere gegnerischen Aktionen reagieren könnte. Dabei erstellen wir unterschiedliche Szenarien und versuchen die möglichen Reaktionen der Truppe herauszufinden. Das ist natürlich alles eine theoretische Sache, wie es dann in der Praxis sein wird, kann niemand im Voraus sagen.

 

Das ist aber eine ziemliche Challenge. Wie weiss man, ob eine nächste Eskalationsstufe angestrebt werden soll oder nicht?

Das ist in der Tat sehr schwierig und wie gesagt, eine der grössten Herausforderungen. Es ist am Schluss ein gesundes menschliches Einschätzen eines jeden Soldaten, der eine gegnerische Rolle spielt, ob er weitergehen soll oder nicht. Vielleicht kann ich es mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn einer unserer Soldaten als Einbrecher unterwegs ist und dabei angehalten und festgenommen wird, dann war es das. Er wird in diesem Fall nicht um sich schlagen, um eine höhere Eskalationsstufe zu erreichen. Das wäre sinnlos, weil die Seite Blau, also die friedliche Seite, ihren Auftrag dann erfüllt hat.

 

Und wenn der Einbrecher nicht gefasst wird, habt ihr gewonnen.

Genau, dann haben wir unseren Auftrag erfüllt (lacht). Nein, am Schluss ist es ein Gegenseitiges. Wir fordern die Truppe mit realen Ereignissen heraus und die Truppe kann beweisen, ob sie fähig ist, die Situation bewältigen zu können.

 

Und nach der Praxis, sprich nach der Übung, was passiert dann?

Nach der Übung ist erkannt, wo die Fehler und Schwachstellen der Truppe liegen. Die Übungsleitung macht dann mit den involvierten Personen ein Debriefing, also eine Übungsbesprechung. Wir speziell bei der OPFOR machen intern auch eine Nachbesprechung. Unsere Soldaten, die eine gegnerische Rolle spielten, erzählen, was gut gegangen ist und was weniger. So wissen auch wir, was es für einen nächsten Einsatz zu korrigieren bzw. zu verbessern gilt. 

 

Wie ist es eigentlich den Gegner spielen zu dürfen? Ist ja schon sehr speziell.

Ehrlich gesagt, es ist schon sehr cool. Das wissen auch die Soldaten bei uns. Sie sind voll motiviert, manchmal sogar fast zu übermotiviert. Hier sind wir als Kader in der Pflicht. Aber ja, unsere Soldaten haben Freude an ihrem Militärdienst und das ist sehr wertvoll. Das kann sicher auch Sdt Peverelli bestätigen, der dort hinten sitzt. 

 

Ja, das mache ich gerne. Sdt Peverelli, Sie sind also so ein bewusst geplanter Störenfried an der Übung ODESCALCHI. Was war Ihr letzter Auftrag?

Für unseren letzten Auftrag haben wir Ballone mit Wasser aufgefüllt. Dann sind wir an eine Übung gefahren. Bevor es losging, fand im Freien ein Rapport statt. Diesen haben wir gestört. Wir sind mit einem Fahrzeug vorgefahren, stiegen aus und warfen die Wasserballone in Richtung Rapport. Dabei spielten wir Militärgegner und riefen: «Haut ab! Und wenn ihr nicht geht, dann kommen wir wieder und machen euch kaputt.» 

 

Und was ist dann passiert?

Das Kader machte sich aus dem Staub. Und die Wache versteckte sich hinter einem Fahrzeug. Ausser ein Major blieb stehen und lachte lauthals. Er war nämlich unser Spion und meldete uns im Voraus, wann und wo der Rapport stattfinden wird. 

 

Das ist ja eine ziemlich lustige Aufgabe, oder?

Schon, es ist auch lustig. Gleichzeitig müssen wir uns ernsthaft in unsere Rolle hineingeben. Es ist ja kein Plauschanlass, sondern ein Szenario, das wirklich auch so geschehen kann. In solchen Situationen richtig reagieren zu können, ist für beide Seiten eine Herausforderung. Wir müssen uns gut auf unsere Störaktion vorbereiten und die andere Seite muss innert kürzester Zeit entscheiden, was sie tun will.

 

Stichwort ‚Vorbereitung‘. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Neben dem Briefing, das Oblt Wyss schon angesprochen hat, sind wir auch sehr kreativ. Für unsere Störaktionen basteln wir zum Beispiel Plakate, Mikrofone, Fotoapparate oder Bomben.

 

Aber hoffentlich keine echten…

Nein, keine Angst (lacht). Wir versuchen damit, das Szenario so echt wie möglich darzustellen. 

 

Oblt Wyss, nochmals zu Ihnen. Wie wichtig ist der Realitätsbezug?

Enorm wichtig. In einer anderen Übung hatten wir das Szenario eines eingestürzten Gebäudes. Unter den Trümmern lagen Menschen. Diese Menschen spielten wir von der OPFOR. Mit Suchhunden versuchten militärische und zivile Einsatzkräfte uns zu finden. Dabei wurde eine verschüttete Person während zehn Stunden nicht gefunden. Zum Glück war es nur eine Übung. Aber dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig solche realitätsnahen Übungen sind.

 

Und so verabschieden wir uns wieder von den Bösen, die gar nicht böse sind, sondern eigentlich ganz nett. Vielleicht manchmal ein wenig nervig und aufdringlich. Aber immer gut gemeint.

 


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